Der Hausball
Es gab eine Zeit, in der Feiern nicht vorbereitet wurden, sondern entstanden. Man sagte nicht, dass man etwas mache. Man ließ zu, dass etwas geschah. Meine Großmutter wohnte im dritten Stock eines Wohnblocks, in einer Wohnung, die nichts darstellen wollte und gerade deshalb alles aushielt. Von außen grauer Putz, ein Geländer, das schon bessere Jahre gesehen hatte, Fenster ohne Anspruch. Innen roch es nach Bohnerwachs, kaltem Rauch und etwas Warmem, das immer da war, auch wenn niemand kochte.
Im Fasching veranstaltete meine Großmutter ihren Hausball. Sie sagte dieses Wort ohne Ironie. Hausball. Es klang groß, aber nicht übertrieben. Niemand fragte, was das genau sei. Alle wussten es.
Am frühen Nachmittag begann das Wohnzimmer, seine Ordnung zu verlieren. Das Sofa wurde an die Wand geschoben, der Tisch verrückt, als hätte er ohnehin nur darauf gewartet. Stühle tauchten auf. Aus der Küche. Aus dem Schlafzimmer. Vom Nachbarn gegenüber, der sie wortlos über den Flur reichte. Klappstühle, Hocker, Küchenstühle mit abgewetzten Sitzflächen. Niemand prüfte, ob das zusammenpasste. Wichtig war nur, dass man irgendwo sitzen konnte, wenn es nötig wurde.
In der Küche entstand ein Buffet, das sich jeder Planung entzog. Es wuchs. Meine jüngste Tante, die in den Achtzigern als Wurstfachverkäuferin arbeitete, hatte ein Gefühl dafür. Sie wusste, wie Überfluss aussieht, ohne protzig zu werden. Ihre Platten waren dicht belegt, ernst gemeint. Salamiröschen, sorgfältig gedreht, als folgten sie einer inneren Ordnung. Schinken, fest um Spargel gewickelt. Mini-Maiskölbchen, eher Dekoration als Nahrung. Eier als Fliegenpilze, rote Kappen, weiße Mayotupfen, so sauber gesetzt, dass man sie fast nicht zerstören wollte. Der Tisch bog sich nicht. Er wurde einfach voller.
Dann kamen die Gäste. Nicht alle auf einmal, sondern nach und nach. Fast vierzig Menschen. Der Großteil Verwandtschaft. Alle verkleidet, ohne den Gedanken, dass Verkleidung etwas Peinliches sein könnte. Hüte, Masken, Uniformen, selbstgenähte Kostüme. Man hatte sich Mühe gegeben, weil Mühe damals noch nichts Verdächtiges war, sondern eine Form der Zugehörigkeit.
Es wurde gegessen, noch bevor alle da waren. Getrunken sowieso. Geraucht im Wohnzimmer, später auch im Flur. Gespräche begannen, brachen ab, setzten neu an. Geschichten wurden erzählt, unterbrochen, später wieder aufgenommen, manchmal von jemand anderem. Die Fenster beschlugen. Die Luft wurde warm und schwer. Niemand hielt das für ein Problem. Irgendwann wurde der Plattenspieler angeworfen. Nicht als Programmpunkt, sondern aus einer Laune heraus. Und irgendwann wurde getanzt. Zwischen Stühlen. Mit Jacken über dem Arm. Mit Gläsern in der Hand. In einem Wohnblock. In einer Wohnung. Im dritten Stock. Niemand beschwerte sich. Niemand dachte daran, dass man sich beschweren könnte.
Ich war noch klein. So klein, dass ich die Erwachsenen mehr hörte als sah. Meine Welt spielte sich auf Tischhöhe ab. Der Hausball begann für mich am Buffet. Ich wusste, ohne es benennen zu können, dass ich mir nehmen durfte. Ich nahm Salami. Nicht ein Stück. Mehrere. Niemand sagte etwas. Man sagte Kindern damals wenig, und das war kein Mangel.
Ich stand mit dem Rücken zum Tisch, kaute und beobachtete. Die Erwachsenen lachten laut, mit offenen Mündern, mit geröteten Gesichtern. Sie erzählten sich Dinge, die sie sich schon oft erzählt hatten, und lachten trotzdem, als hörten sie sie zum ersten Mal. Einer meiner Onkel beugte sich zu mir herunter. Er roch nach Rauch und Rasierwasser. Er sagte etwas, in dem mein Name vorkam. Dann schob er mir Geld in die Hand. Zusammengefaltet. Warm. Zehn Mark.
Ich sagte Danke.
Nicht übertrieben.
Nicht schüchtern.
Ein ordentliches Danke.
Er nickte zufrieden, als hätte ich eine kleine Prüfung bestanden, und ließ mich wieder in Ruhe. Kurz darauf ein Großonkel. Schwerer Mann, dunkler Anzug, die Maske halb verrutscht. Er zwinkerte mir zu, steckte mir zehn Mark zu. Wieder sagte ich Danke. Wieder das Nicken. Wieder die Freiheit.
Ich begriff früh, dass das dazugehörte. Das Geld war kein Geschenk im eigentlichen Sinn. Es war ein kurzer Austausch. Eine Geste, die gesehen werden wollte. Wenn man richtig Dank sagte, war alles erledigt. Man war entlassen.
Ich steckte das Geld in die Hosentasche. Sie wurde schwer. Das gefiel mir. Gewicht bedeutete etwas. Ich ging zurück zum Buffet, nahm noch Salami, diesmal mit einem Zahnstocher. Jemand tanzte, nicht richtig, eher ein Schaukeln. Der Plattenspieler knackte, die Nadel sprang kurz, dann lief die Musik weiter. Ich setzte mich auf einen Stuhl, der zu groß für mich war. Die Füße baumelten. Neben mir stand ein Glas Limo, schon halb warm. Ich trank trotzdem.
Immer wieder kam jemand vorbei, tätschelte meinen Kopf, sagte etwas, das ich nicht verstand, aber das freundlich klang. Später, viel später, sangen sie. Nicht schön. Nicht richtig. Aber gemeinsam. Ohne Taktgefühl. Ohne Anspruch. Ohne Publikum. Stimmen, die sich suchten, verfehlten und trotzdem zusammenblieben. Ich verstand die Texte nicht. Aber ich hörte, dass sie zusammen waren.
Auch bei meinen anderen Großeltern war das so. Sie lebten in einem kleinen, alten Haus mit niedrigen Decken und einer Holztreppe, die immer knarrte. Bei runden Geburtstagen war das ganze Haus voller Menschen. Jedes Zimmer außer dem Schlafzimmer. Sogar der Balkon. Meine Oma stand in der Küche und redete und kochte gleichzeitig. Strammer Max. Seemannsbrot. Eins nach dem anderen, wie in einer kleinen Wirtschaft ohne Kasse. Niemand fragte, ob das zu viel sei. Niemand fragte, ob man das dürfe.
Ich wusste damals nicht, dass solche Abende nicht selbstverständlich sind. Dass sie verschwinden können. Nicht plötzlich. Sondern leise, indem man sie kompliziert macht.
Heute klappt nicht einmal mehr das Einfachste. Nicht einmal, dass man sich zum Geburtstag auf einen Kaffee trifft. Dass alle zur gleichen Zeit am Tisch sitzen. Man steht auf, schaut auf das Handy, geht früher. Man sagt, es sei stressig, und meint Termine, Müdigkeit, den Alltag.
Es ist nicht mehr lustig.
Und schon gar nicht mehr ausgelassen.
An jenem Abend hielt ich die Hand in der Tasche, spürte das Geld und hörte den Gesang. Draußen hinter dem Block war die Nacht. Und drinnen war alles da, was man brauchte.



Wunderbarer Text vielen Dank, war voll dabei. Sah die Geburtstage meiner Urgrossmutter vor mir. Grosse Tischrunde viel Lachen. In der DDR war das Fünfmarkstück der Highlight als Kind.
ja, das kenn ich auch noch.
Schöne alte Zeit